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Schlitzohrs Weihnachten

Er hieß Schlitzohr, weil er mit einem Schlitz im linken Ohr zur Welt gekommen war, und dies unterschied ihn sichtlich von seinen drei Hasenbrüdern.
Schlitzohr war ein beherzter kleiner Hase und besaß ein starkes Verlangen, sich einmal die Welt anzusehen. Da er nicht genau wußte, wie Vater oder Mutter darüber dachten, so rückte er an einem Dezembermorgen, ohne vorher anzufragen, aus.


Bildquelle: Wikemedia

Es gefiel ihm ungemein da draußen, der bereifte Hochwald, die beschneiten Roggenfelder, aus denen die jungen Keime herausguckten, die braune Heide, die am Rande des Dorfes lag und in der sich der Schnee just nach Laune gelagert hatte.
Schlitzohr begann von dem Herumstreifen etwas müde zu werden. Auf dem Roggenfeld hatte er sich den Mund voll junger Keime genommen, die wollte er nun in aller Ruhe kauen. So suchte er sich ein nettes kleines Tannenbäumchen aus, das in der Heide stand und ein weißes Mützchen auf seiner Krone hatte. Hier wollte Schlitzohr behaglich lagern, da es jetzt tüchtig zu schneien anfing.
Als er den Kopf ein wenig senkte, um unter die tief herabhängenden Zweige der Tanne zu schlüpfen, geriet er in einen Gegenstand. Und als der kleine Wandersmann sich fest dagegen stemmte, da saß ihm auch schon ein grüner Tiroler Puppenhut schief auf dem Kopfe.
Da Schlitzohr das Hütchen erst auf der Stirne hatte und es auch sein linkes Ohr reichlich deckte, störte es ihn durchaus nicht, und er vergaß es sogar ganz über der großen Behaglichkeit, die unter dem Tannenbäumchen herrschte, und über den wohlschmeckenden Roggenhälmchen.
Als er sich wieder erfrischt fühlte, überkam ihn eine große Sehnsucht nach seiner Heimat. Er machte sich schnurstracks auf den Rückweg und freute sich darauf, den Seinigen von allem zu erzählen, was er gesehen hatte. Nun er glücklich angelangt war, saß sein Vater mit gekreuzten Armen vor der Behausung und sah sehr erstaunt auf den Ankömmling.
"Guten Tag Vater!" sagte Schlitzohr etwas verlegen. Da sagte der alte Hase:"Ich bin nicht dein Vater!" Mit weinerlicher Stimme rief der zurückgekehrte Kleine:"Doch, doch! Ich bin Schlitzohr, dein jüngstes Kind!" Der Vater aber schüttelte gleichmütig den Kopf und rief die anderen herbei und sagte:"Meine lieben Jungen, seht doch einmal selbst! Dieser hier gibt vor, Schlitzohr zu sein. Erkennt ihr ihn?"
"Nein, nein!" riefen die drei Brüder. "Unser Schlitzohr hat einen Schlitz im linken Ohr und nicht ein so wunderlich Ding, wie der da, auf dem Kopfe!" Und sie lachten bei diesen Worten hell auf. Da wandte Schlitzohr den Seinigen traurig den Rücken und ging mit gesenkten Kopfe planlos davon.
Als er einige Zeit ganz niedergeschlagen dahingetrottet war, begegnete ihm ein alter Mann mit einem langen weißen Barte und grauen freundlichen Augen. Der war in einem dunkelrot überzogenen Pelz gehüllt und hatte einen großen Sack auf dem Rücken. "Guten Tag, Herr Weihnachtsmann!" sagte Schlitzohr mit bescheidener Stimme.
"Na, Kleiner, wohin des Weges?" fragte der Alte und blieb stehen, wobei er sich auf seinen Knotenstock stützte. Schlitzohr erzählte ihm nun getreulich alles, was sich am Tage ereignet hatte. Am Ende seines Berichts liefen dem Kleinen dicke Tränen über die Wangen.
"Eigentlich hab ich heute so viel für die Menschen zu besorgen, dass für euch Hasen kaum Zeit übrig bleibt. Da aber Christtag ist, sollst du nicht allein und freudlos im Wald umherirren. Ich habe in der nächstgelegenen Stadt zu tun; so will ich dich mitnehmen und dir zu einem Obdach verhelfen."
Da begann das kleine Hasenherz freudig zu schlagen und zwei große Augen sahen dankerfüllt zu dem alten Manne auf.
Als der Weihnachtsmann und Schlitzohr in der Vorstadt angekommen waren, hielt der Alte vor einer eisernen Gartenpforte an, durchschritt sie, ging an einem alten Landhause vorbei und auf ein Hintergebäude zu. Hier öffnete der Weihnachtsmann die hölzerne Schiebetüre eines kleinen Stalls und sprach eindringliche Worte zu den beiden dort in ziemlicher Eintracht wohnenden Kaninchenfamilien. Die Kaninchen beherzigten all das, was der Weihnachtsmann sagte, denn sie hatten eine große Hochachtung vor ihm. So hießen sie Schlitzohr freundlich willkommen. Das Häschen befreundete sich schnell mit dem kleinsten Kaninchen, das rote Augen und ein weißes Fell hatte.
Als die Abendglocken in der Stadt läuteten, wurde die Schiebetüre des Kaninchenstalles wieder geöffnet. Ein kleines Mädchen mit Blauaugen und kurzgeschnittenem Pagenhaar guckte herein und hielt eine Laterne in der Hand. Mit der Linken leuchtete es in den Stall, während es mit der Rechten den Inhalt seiner Schürze auf den Steinboden schüttete. "So, da habt ihr allerlei Kraut und Rüben und auch ein paar Pfefferkuchen von meinem Teller; damit ihr doch auch wisst, dass es heute Weihnachten is!"
Plötzlich gewahrte es Schlitzohr und den ihr wohlbekannten grünen Puppenhut auf seinem Kopfe. Es jauchzte zuerst vor Freude, dann nahm es den Hut rasch an sich und rief:"Da habt ihr ja einen seltenen Weihnachtsgast! Und der bringt mir als Weihnachtsgabe den Hut von meinem Tiroler Seppel zurück. Ich habe ihn im Sommer beim Spiel in der Heide vor dem Dorfe verloren. Mutti schalt über Nachlässigkeit und ich weinte noch so!" Das kleine Mädchen nickte noch ein "danke schön, du braver grauer Kerl!" und dann lief es spornstrichs in das Landhaus zurück, um da drinnen die eigentümliche Gabe des kleinen Hasen zu zeigen. Dabei hatte es ganz vergessen, die Stalltüre wieder zu schliessen.
Als Schlitzohr dies sah und sich von dem Hut befreit fühlte, kam ihm der Gedanke: Nun werden sie mich zu Hause erkennen! Er dankte den Kaninchen vielmals für ihre Gastfreundschaft, verabschiedete sich von dem kleinen weißen Rotauge und lief, so schnell ihn nur seine Beine tragen wollten, über Acker und Land der Heimat zu.
Atemlos kam er dort nach einiger Zeit an. Sie saßen alle traurig in der Behausung beisammen, und die Mutter weinte sogar um Schlitzohr, ihr jüngstes Kind.
Als nun der Vermisste plötzlich in ihrer MItte stand, rief der Vater freudig:"Schlitzohr, mein Junge, gut, dass du da bist! Wir haben uns sehr um dich geängstigt."
Die Mutter aber strich sich abwechselnd die Tränen aus den Augen und liebkoste Schlitzohr. Darauf eilte sie davon und kam mit allerhand Leckerbissen zurück. "So, Kinder," sprach sie "nun lasst es euch schmecken. Schlitzohr ist wieder da! Nun können wir ein fröhliches Weihnachtsfest feiern!"

Marie Hermes von Baer
(25.09.1866 - 10.02.1929)

Nickname 19.12.2010, 08.04

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